Philipp Beckert

Fotografische Spurensuche und Zeugenschaft im Existenzraum. Eine Lesart zur „sozialen Gebrauchsweise der Fotografie“

Die Idee für das Buch, das sich mit einer Aufarbeitung der gesellschaftlichen Transformation in der DDR, der Post-DDR und in Ostdeutschland anhand von Fotografie befasst, entstand mit dem Text von Heinz Czechowski über Christian Borchert. 

Der Untertitel dieses Essays zur „sozialen Gebrauchsweise der Fotografie“ ist dem Untertitel des Buches von Pierre Bourdieu und Luc Boltanski „Eine Illegitime Kunst“ entnommen. 

In diesem Band untersuchen Pierre Bourdieu und andere Soziologen Fotografie als „illegitime Kunst“ und unter dem Gesichtspunkt ihres Gebrauchswertes. Was wie eine Kampfansage an die künstlerische Fotografie klingt, ist unter dem Aspekt der Visuellen Soziologie eine Entlastung. Dem Hantieren mit dem Fotoapparat in unterschiedlichen Situationen persönlicher Bewegtheit oder Betroffenheit wird die Ambition genommen. Viele Fotograf*innen haben die Ambition der künstlerischen Fotografie weniger bis teilweise gar nicht, wenn sie als Reporter unter belastenden Auftragsbedingungen unterwegs sind. Hierzu gehören gesellschaftliche Reportage jeder Art bis hin zu Kriegsreportage. Jedoch kann hier wiederum die Ambition der Sensationsfotografie, des Snapshots oder des Thrills vordergründig werden. 

Andere haben die Ambition der künstlerischen Fotografie wiederum sehr stark, wenn es um Themen wie Mode, Architektur, Portrait oder Atmosphären geht. 

Was Pierre Bourdieu, Luc Boltanski und andere Soziologen in der Erforschung einer sozialen Gebrauchsweise der Fotografie finden, sind verschiedene Verfahren. 

Sie finden einerseits das Verfahren, die Zeit abzubilden, als wäre das Zeit-Bild ein Zeugnis des Fotoapparats für den Fotoapparat. Das ist die reinste Form der fotografischen Gebrauchsweise. Ein nächstes Verfahren führt sie zu den Familienbildern, Aufstellungen von Familiengruppen oder Dorfgruppen nach immer wieder dem gleichen Schema, seit es die Fotografie gibt. Auch hier ist die Fotografie reine Gebrauchsweise des Apparats und das Bild für den Gebrauch in einer erinnerungskulturellen Funktion. Ein nächstes Verfahren ist der Zyklop, die Sucherkamera, die das Gesicht des Fotografen nicht nur halb abdeckt, sondern ganz verschwinden lässt, indem dieser nach unten schaut, wie in einen Brunnen. In diesem Brunnen, dem so genannten Lichtschachtsucher, findet er sein Bild, während das Gegenüber in ein Zyklopenauge schaut anstatt in das Antlitz des Fotografen (auch wenn es beispielsweise bei einer Spiegelreflexkamera halb abgedeckt ist durch den Apparat und das oft zusammengekniffene zweite Auge die andere Gesichtshälfte verzerrt). In diesem Verfahren verschwindet der Fotograf scheinbar als Gegenüber. Bourdieu bevorzugte eine „unauffällige Kamera“ und mit ihr die eigene Unauffälligkeit als teilnehmender Beobachter. Die Zeiss Ikon Ikoflex Ib, mit der Bourdieu arbeitete, entsprach seinen Erfordernissen. 

Mit diesen drei Verfahren wird eine Gebrauchsweise der Fotografie praktiziert, die weder einen künstlerischen Wert noch einen Sensationswert des Fotografierens und der Fotografie anstrebt. 

Ein weiteres Verfahren ist das biografische Moment als gesteigertes Lebensgefühl, das sich in den sozialen Situationen spiegelt. Hier finden sich Empathie, Solidarität, auch Entsetzen oder Klage. Die Fotografie ist in diesem Verfahren ein Vermittler, aber auch Zufluchtsort für beide Seiten, den Fotografierenden und die Fotografierten. Das ist die soziale Gebrauchsweise der Fotografie, deren Anliegen ganz und gar nicht darin besteht, ein künstlerisches Foto zu schaffen, sondern eine Situation zu bewältigen. In einem zweifachen Sinne: der unmittelbaren Zeugenschaft des Fotografen und des Zeugnis-Ablegens von einer Begebenheit. 

Erst in der „sozialen Gebrauchsweise der Fotografie“ als „illegitime Kunst“ entsteht ein doppelter Auftrag für den Fotografen. Er ist jetzt in einem doppelten Brennpunkt: im biografischen Brennpunkt des gesteigerten Lebensgefühls und synchron im sozialen Brennpunkt der Zeugenschaft. Dazwischen steht das Brennglas, das Objektiv als Zufluchtsort und Zeuge. Das Objekt als Zeuge ist der eigentliche Anwalt der Situation für beide Seiten gleichzeitig – die des Fotografen und des Fotografierten. 

Die Verantwortung des Fotografen, der im Auftrag der sozialen Gebrauchsweise der Fotografie steht, ist die Anwaltschaft. Das nennt Bourdieu Objektivierung von Tatbeständen. 

Die Fotografien, die Pierre Bourdieu im Rahmen seiner ethnologischen und soziologischen Forschungsarbeiten während des Befreiungskrieges in Algerien angefertigt hat, entsprechen der „sozialen Gebrauchsweise der Fotografie“. Die Fotografie war ihm in diesem Krieg „Begleiterin“, wie er selbst sagt. Und der Apparat ein Begleiter. Aber nicht nur als technisches Objekt – obwohl sich für Bourdieu eben gerade die Sucherkamera im sozialen Auftrag bewährt hat –, sondern als Objekt des Zu-sich-selbst-Kommens. Die Fotografie und der Fotoapparat haben als seine Begleiter zu einer „Konversion des Blicks“ geführt. Das meint, die Fotografie und der Fotoapparat haben ihn, Bourdieu, innerhalb des fotografischen Verfahrens seinem Gegenüber ähnlich gemacht oder während des Fotografierens ähnlich sein lassen. Hier erfüllte sich für Bourdieu seine Rolle der Zeugenschaft. Er nennt diese Art der Zeugenschaft, die eine Konversion eingeht, Selbstversuch. Der Selbstversuch ist bei Bourdieu also eine Bedingung der Objektivierung. Oder umgekehrt – die Objektivierung setzt den Selbstversuch voraus. 

Selbstversuch qua Objektivierung ist in der Fotografie nicht nur eine Frage des Er/Lebens, wie sich immer wieder zeigt, sondern auch eine Frage des Über/Lebens im sozialen Existenzraum. Am Text Heinz Czechowskis, den er über seinen Freund Christian Borchert schrieb, wird dieses Motiv in einer berührenden Weise verständlich. Christian Borchert hat mit der Fotografie und dem Fotoapparat die Zerstörung, die Entwurzelung und den Wiederaufbau von Dresden geordnet. Bedeutsam ist hier seine Bildchronik zum Wiederaufbau der Dresdener Semperoper. Das fotografische Ordnen als Verfahren des Objektivierens schließt die Zeugenschaft mit ein, als ein Zu-sich-selbst-Kommen im sozialen Existenzraum. Scheinbar ist nur in dieser Zwischen-Verfasstheit eine radikale „soziale Gebrauchsweise der Fotografie“ möglich: nämlich die Sicherung des Existierens durch die Sicherung von Spuren. 

Philipp Beckert, Fotografische Spurensuche und Zeugenschaft im Existenzraum.  Eine Lesart zur „sozialen Gebrauchsweise der Fotografie“, in: Yana Milev, Philipp Beckert, Marcel Noack, Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90, Band 5: Zeugnisse I /Fotografie, Peter Lang International Publishers, Berlin, 2021